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Das sanfte Gelb des sonnigen Vormittags und andere Lieblingsfarben

Von Rainer Wanzelius

Meine Lieblingsfarbe ist ein helles, von Gelb durchflossenes Grün. Olga, meine Partnerin, hat ein Rot gewählt, das sich dem Violetten nähert. Olgas Rot ist sicher die modischere unserer beiden Farben, wie auch immer dieser Eindruck entstehen mag..

 

Da die Tafeln am Treppenabsatz vor unserer Wohnung angebracht sind, haben wird eine stufige Hängung gewählt. Rot überragt Grün. Olga überragt mich.

 

 

 

Die Tafeln sind von Anna Wiesinger gemalt. Anna Wiesinger, eine Österreicherin mit Wohnsitz im niedersächsischen Lüchow, hat ihren einjährigen Kulturhauptstadt-Aufenthalt in  Dortmund genutzt, ein Lieblingsfarben-Projekt zu entwickeln, das inzwischen Farbe in zwanzig Häuser gebracht hat, noch ein paar mehr sollen es werden. „Kunst in den Treppenhäusern“ nennt Anna Wiesinger ihre Aktion.

Zunächst hat Anna wiesinger den Bewohnern einen Flyer mit einem Farbenstern, der sechsundneunzig Farb-Varianten enthält, und der alten Barnett Newman-Frage hinterlassen: Wer hat Angst vor Rot, Gelb, Blau? Wer ein Kreuzchen auf eine der Farben – seine Lieblingsfarbe – gekritzelt hat, den begrüßt nun vorm Öffnen der Wohnungstür die eigene Farbe. Ein bisschen verräterisch ist das schon. Eine einzelne Tafel, gerade mal 20 mal 21 cm,  lässt auf den ersten Blick auf einen Single-Haushalt schließen, fünf Tafeln zum Beispiel schon auf eine kleine Großfamilie. Aber das ist so gemeint und soll so sein.

Anna Wiesinger hat sich auf die Ausstellung 2-3 Straßen des Konzeptkünstlers Jochen Gerz im Rahmen von RUHR . 2010 eingelassen. Gerz hofft den Beweis zu erbringen, dass auch am Dortmunder Borsigplatz mehr Lebensfülle, Freude und Fantasie zu heben sind, als man gemeinhin vorzufinden erwartet (und die Leute von sich selbst erwarten). Für eine, für „seine“ Lieblingsfarbe hat sich doch jeder einmal entschieden!

Und wie das so ist, wenn Ideen gute Ideen sind: dann wachsen sie, wandeln sich, erscheinen in immer neuem Licht, lassen immer tiefer blicken. „Je mehr Familien ich durch die Wahl ihrer Farben kennen lerne“, notiert die Malerin Wiesinger, nachdem sie (mit Unterstützung von Volker Pohlüke, einem anderen 2-3 Straßen-Teilnehmer) Hunderte von Tafeln gefertigt hat, „je mehr Familien ich kennen lerne, desto klarer wird mir, dass es jedes Mal ein vollständiger Kosmos ist, der sich da vor meinen Augen öffnet.“

Was sagt die Farbwahl über den Charakter des Menschen, der sich für eine Farbe entscheidet? Wie korrespondieren die Farben auf den Fluren miteinander – im Familienverbund oder im Gegenüber der Wohnungstüren? Entsteht so etwas wie das charakterliche Abziehbild ganzer Hausgemeinschaften? Anna Wiesinger glaubt daran und möchte dieses Gesamtbild in Form einer digitalen Dächer-Kartografie bei Google Earth sichtbar machen. „Erstaunlich, selbst Häuser haben eine eigene Seele“, erkennt die Künstlerin. Menschen beschäftigen sich mit Menschen, indem sie sich mit Farben auseinandersetzen. Viele weitere Fragen. Gibt es ethnische Färbungen? Was sagt
gleiche Farbwahl über das Miteinander zweier Menschen? Oder, ganz persönlich: Was sagen dieses gelbhaltige Grün und dieses violette Rot über Olga und mich und unser Miteinander? Wichtiger als die Antworten ist aber dies: Wir haben mitgemalt, durch die Farbwahl sind wir selbst zu Künstlern geworden. Und Anna, die eigentliche Schöpferin? Welche Farbe hat sie für sich gewählt? Mal nachschauen. Gelb! „Meine Wahl ist dieses Hellgelb, das mich von innen wärmt, das sanfte Gelb des sonnigen Vormittags. Im Übrigen muss ich sagen, dass ich in den richtigen Zusammenhängen jede Farbe lieben kann.“

Als „Galerie von Familienbildern ganz eigener Art“ hat Christof Siemes in der „Zeit“ die
Wiesinger-Kunst beschrieben, als eine Folge „abstrakter Porträts“. Jochen Gerz, dessen 2-3 Straßen-Projekt Wiesingers Dortmunder Farbfeld-Malerei ja ausgelöst hat, ist ebenfalls angetan. „Wir erleben den in der Kunstgeschichte sicher einmaligen Fall, dass sich Abstraktion und Privates zu einer gemeinsamen, allen zugänglichen Formensprache verbinden.“

Dortmunder Malerei? Anna Wiesinger wird nach dem Kulturhauptstadtjahr ihre Arbeit fortsetzen, wo auch immer, wie auch immer. Es muss nicht der Borsigplatz sein. Olgas Rot und mein Grün hängen übrigens auch nicht in Dortmund, sondern im vierten Stock eines hundert Jahre alten Wohnhauses in Herne. Die „Kunst in den Treppenhäusern“ funktioniert eben auch in Herne, Berlin oder Wien. Überall dort, wo Menschen bereit sind, ein wenig von ihrem Inneren preiszugeben.
Wenig kann ja so viel sein.

 


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